Montag, 23. April 2007

Geistiger Pilgertag in Lourdes - von Pfarrer Anton Pichler, Salzburg, Wien

Geleitwort

Ganz still ist es in meinem Krankenzimmer. Es ist Montag. Schwer hält mich die Krankheit gefesselt. Ich bin müde an Seele und Leib. Meine Gedanken werden schwächer und schwächer, es beginnt dunkel zu werden vor meiner Seele. Die Lieben, die mich besuchen und neben mir weinen, kenne ich nur noch mühsam. Ich rede wirre Dinge und fühle meine Kräfte schwinden. Gegen Abend wird es noch schlimmer. Mir ist heiß und kalt in allen Gliedern, es ist, als käme der Tod, mich zu holen zum Heimgange. In schwerster Not falte ich die Hände und bete wissend und unwissend: "Maria hilf, Maria hilf!" Die Krankenschwester legt mir einen Umschlag mit Lourdeswasser auf die Stirne. "Aber jetzt ist mir sonderbar", sage ich plötzlich. Als es Morgen wurde, war ich gerettet.
Zu gleicher Zeit steigen Tausende von Gebeten zum Himmel. Meine Getreuen, besonders die Kinder, bestürmen Maria immer wieder: "Gedenke, gedenke!"
Am Freitag konnte ich ohne jede Ermüdung das erstemal das Krankenlager verlassen, am Dienstag ging ich ins Freie, am Donnerstag las ich die erste heilige Messe. Das hat Maria von Lourdes getan.

Wenn ich dieses Büchlein schrieb, soll es geschehen sein, meine Dankbarkeit gegen Maria auszusprechen. Das Büchlein nennt sich: "Geistiger Pilgertag in Lourdes. Ein Büchlein für alle, die Heimweh nach Lourdes haben." Es gibt so viele, die schon in Lourdes waren und seitdem Heimweh haben nach der Gnadenstätte. Aber noch größer ist die Zahl jener, die noch nicht dort gewesen und doch so gerne hineilen würden, wenn sie könnten. Für diese und jene soll dies Büchlein bestimmt sein, ihr Heimweh zu stillen. Geistigerweise will ich sie an den Gnadenort hinführen und mit ihnen einen Pilgertag jubelnd, vertrauend, betend an heiliger Stäte weilen. Vom Morgengruß bis zum Abendläuten soll alles Beten und Glück, alles Hoffen und Sehnen ein Pilgertag in Lourdes werden. Vor uns soll sich die Grotte erheben und die Heiligtümer des Gnadenortes, neben uns rausche die Wunderquelle, ringsum knien und singen die Pilger: Wir geistigerweise in ihrer Mitte. Das ganze Herz soll in Lourdes sein und Lourdesfrieden genießen.
Maria segne dich, liebes Büchlein, du Büchlein meines Herzens. Und so fliege hiaus wie ein Muttergottesvöglein und singe von Tal zu Tal:
Ave, ave Maria!
Salzburg, am Feste Mariä Reinheit 1901. Der Verfasser.

Die Entstehung des Gnadenortes

Am 11. Februar 1858 gingen zur Mittagsstunde drei Mädchen aus Lourdes zum Felsen Massabielle hinaus, daselbst Holz zu suchen. Dabei mußten sie den Mühlbach durchwaten, dorthin zu gelangen. Maria und Johanna befanden sich bereits jenseits des Baches, Bernadette, ein schwaches, kränkliches Kind, war soeben daran, die Strümpfe auszuziehen. Da hört sie plötzlich über sich ein Rauschen, sie schaut auf, doch kein Blatt regt sich. Einige Augenblicke später hört sie das gleiche Rauschen, wieder schaut sie auf, da steht vor ihren Blicken in der Felsenhöhe eine wunderbare Erscheinung. Von himmlischem Lichte umflossen, sieht Bernadette eine liebliche Frauengestalt. Ein blendendweißes Kleid umfließt die Glieder, ein blauer Gürtel umschlingt die Hüften, ein langer Schleier wallt vom Haupte nieder. Auf den Füßen sprossen goldene Rosen, die Hände sind zum Gebete gefaltet und tragen einen schneeweißen Rosenkranz.
Das Kind erschrickt, doch die Erscheinung lächelt mild. Sie heißt das Kind den heiligen Rosenkranz beten, Bernadette verliert jede Furcht, sie betet, plötzlich ist die Erscheinung verschwunden; die Grotte ist wieder öde und leer. Die beiden Mädchen hatten die Erscheinung nicht gesehen, aber sie glaubten der Erzählung Bernadettes.
Die Kunde von dem Geschehenen verbreitete sich schnell in der ganzen Stadt. Die einen glaubten, die andern spotteten.
Am nächsten Sonntag gingen die drei Mädchen wieder zur Grotte. Die Mädchen hatten verabredet, Bernadette solle die Erscheinung mit Weihwasser besprengen und sagen: "Kommst du von Gott, so nähere dich, kommst du vom Teufel, entferne dich!" Bernadette betete den Rosenkranz. Plötzlich verklärte sich das Antlitz des Kindes, und das Mädchen rief: "Sehet, da ist sie!" Dann besprengte es die Erscheinung und sagte: "Kommst du von Gott, so nähere dich." Mehr konnte es nicht sagen, denn die Jungfrau trat vor: Sie kam von Gott. Ihr Antlitz leuchtete noch schöner, dann verschwand sie.
Das drittemal zeigte sich die Erscheinung am 18. Februar. Das Mächen war von zwei Damen begleitet, welche ein Schreibzeug mitnahmen, damit die Erscheinung ihren Namen aufschreiben möge. Als die Jungfrau sich zeigte, bat das Mädchen, sie möge niederschreiben, wer sie sei und was sie wolle. Die Erscheiung lächelte und sagte: "Was ich sagen will, brauche ich nicht aufzuschreiben. Mache mir die Freude und komme zwei Wochen hindurch täglich hieher. Ich werde dich dafür glücklich machen, nicht in dieser Welt, sondern in der anderen. Auch die anderen sollen mitkommen, ich will viele Leute hier sehen." Nach diesen Worten war die Erscheinung verschwunden.
An den nächsten Tagen kamen bereits Hunderte, am Sonntag mehrere Tausend zur Grotte. Ohne jede Verwirrung durchschritt das Mädchen die Menge, kniete sich nieder und wartete des begnadeten Augenblickes. Auf einmal verklärten sich die Züge, das Auge schien den Himmel zu schauen, das ganze Wesen schien in eine andere Welt übergegangen zu sein.
Am Sonntag sprach die Erscheinung zum Kinde: "Bete für die Sünder."
Die Bewegung zog immer weitere Kreise. Schon nach wenigen Tagen mischte sich die Polizei in die Angelegenheit. Der Polizeikommissär zog Bernadette ins Verhör und verbot ihr, zur Grotte zu gehen. Von ihm eingeschüchtert, schloß sich der Vater Bernadettes, Franz Soubirous, dem Verbote an. Der Schmerz, den das Mädchen durch das Verbot des Vaters leiden mußte, war groß. Doch Maria verließ ihr Kind nicht. Sie änderte die Gesinnung des Vaters, so daß er schon am nächsten Tage dem staunenden Kinde die volle Freiheit gewährte, zur Grotte zu gehen. Der Polizeikommissär wütete, doch seine Wut war vergebens. Bernadette hatte sich keines Vergehens schuldig gemacht. Wer sollte ihr verbieten können, im Walde zu beten? Die Leute hatten sie nicht gerufen, sie waren selbst gekommen.
Am 23. Februar kam das Mädchen wieder zur Grotte. Die Erscheinung war von unsäglicher Schönheit. Voll mütterlicher Zärtlichkeit ruhte der Blick auf dem Kinde. Zum erstenmal nannte die Jungfrau das Mädchen beim Namen.
"Bernadette, ich will dir ein Geheimnis anvertrauen, das nur dich betrifft. Versprichst du mir, es niemand zu sagen?"
Das Mädchen versprach es und erfuhr jenes Geheimnis, das sie nie offenbarte.
"Und jetzt, meine Tochter, gehe und sage den Priestern, daß ich an diesem Orte eine Kapelle errichtet haben will." Dann verschwand sie.
Für das arme Mädchen war es ein schwerer Gang, dem Pfarrer die Nachricht zu überbringen. Pfarrer Peyramale war ein ernster Mann, der den Erscheinungen eher mit Mißtrauen als Vertrauen gegenüberstand. Im Einverständnisse mit dem Bischof von Tarbes ließ er die Sache ihren Lauf gehen und verbot den Geistlichen seines Dekanates den Besuch der Grotte.
Bernadette betrat schüchtern das Zimmer des Pfarrers. Er hörte sie an und gab ihr den Auftrag, die Erscheinung möge durch ein Wunder bestätigen, daß sie von Gott komme. Der Rosenstrauch in der Höhle solle zu blühen beginnen, dann glaube er.
Das Kind erzählt der Erscheinung von dem Wunder, das der Pfarrer begehrte. Die Dame lächelte: Zu armselig schien ihr das Wunder, Rosen blühen zu lassen, die nur der sieht, der zur Grotte kommen kann. Ein größeres Wunderwerk hatte sie vorbereitet, ein Denkmal ihrer Mutterliebe für die ganze Menschheit.
Von unzähligen Scharen begleitet, betrat am 25. Februar Bernadette die Grotte. Die Dame erschien.
"Trinke und wasche dich an der Quelle und iß von den Kräutern, die dort wachsen."
Das Mädchen wollte zum Bache gehen, dort zu trinken.
"Gehe nicht dahin. Schöpfe aus dieser Quelle."
Dabei wies die Erscheinung in die trockene Ecke an der rechten Seite der Grotte. Das Kind folgte, konnte jedoch keine Quelle entdecken. Die Zuschauer konnten sich nicht erklären, was das Kind suche. Es begann die Erde aufzulockern, siehe! Da begann es aus unbekannten Tiefen zu rieseln, immer reichlicher kam das Wasser, bis es endlich aus der Höhle wie ein dünner Faden auf die Menge zuquoll. Bernadette trank, inzwischen schwand die Erscheinung. Nach einigen Tagen wuchs die Quelle bis zu einem Wasserstrahle in der Stärke eines Kinderarmes.
Am 26. erschien die Dame nicht. Es war, als wollte sie ihr Kind prüfen und vor Stolz und Eitelkeit bewahren. Dafür geschah an diesem Tage das erste Wunder. Der blinde Steinbrecher Bouriette wurde durch das Wasser der Quelle plötzlich sehend. Außerdem ereigneten sich noch mehrere andere wunderbare Heilungen durch das Wasser der Grotte.
Am 4. März, dem letzten der vierzehn Tage, warteten mehr als zwanzigtausend Menchen auf das Wunderkind. Unter lautloser Stille konnte sich Bernadette der Grotte nahen. Das Kind mußte beten und aus der Quelle trinken, so befahl die Erscheinung. Als es bat, die Dame möge ihren Namen nennen, wurde die Bitte nicht gewährt.
Am gleichen Tage wurde ein sterbendes Kind durch Untertauchen in das eisigkalte Wasser der Grotte plöztlich geheilt. Ebenso erlangte eine seit zwanzig Jahren taube Frau plötzlich das Gehör wieder. Der Ruf der Wunder verbreitete sich in Sturmeseile.
An den kommenden Tagen zeigte sich die Erscheinung nicht mehr. Erst am Feste Mariä Verkündigung, jenem lieblichen Feste, an dem der Himmel und die Erde den Bund des Friedens geschlossen, zeigte sich die Jungfrau dem Kinde wieder. Eine ungeheure Menschenmenge umlagerte die Grotte. Bernadette kniete sich nieder, im gleichen Augenblicke erschien die Dame.
"Ich bitte dich, liebe Frau, sage mir doch, wer du bist."
Mild lächelte die Jungfrau. Sie konnte nicht mehr länger das Flehen unerhört lassen. Langsam öffnete sie ihre Hände, ließ den Rosenkranz am Arm hinabgleiten, breitete die Hände wie zum Segen aus und sprach in unendlich himmlischer Wonne die Worte:
"Ich bin die Unbefleckte Empfängnis."
Dann verschwand sie. Nun war das Rätsel gelöst, die Jungfrau war Maria. Bernadette eilte zum Pfarrer, Peyramale glaubte.
Am 16. Juli erschien Maria zum letztenmale. So schön und herrlich war die Erscheinung noch nicht gewesen. Heute war sie gekommen, dem Kinde für diese Welt "Lebewohl" zu sagen. Erst in der andern Welt sollte die Auserwählte ihre Mutter wiedersehen.
Die Tage der Erscheinungen waren nicht, wie es scheinen sollte, Tage des Friedens, sie waren eine Zeit schweren Kampfes. Die Hölle bot ihre ganze Macht auf, den Sieg der Unbefleckten zu vereiteln. Und doch mußte sie siegen und der Schlange den Kopf zertreten. Der erste Ansturm der Feinde galt dem Kinde. Man suchte es durch Drohungen und Gewalt einzuschüchtern. Als dies vergebens war, stellte man Bernadette als eine Närrin hin. Und doch besiegte das Kind durch seine Ruhe, durch die Klarheit seiner Aussagen die Anschläge der Feinde. Aus dem Munde der Kinder will der Herr sein Lob verkünden.
Der zweite Ansturm galt dem gläubigen Volke. Durch alle erdenklichen Mittel suchte man es irre zu machen, mit Gewalt hielt man es von der Grotte zurück. Doch das gläubige Volk wußte es: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Hatte nicht die Jungfrau gesagt: Es sollen viele Leute kommen? Sollten sie lieber den Menschen als der himmlischen Mutter folgen?
Man sperrte die Grotte ab. Umsonst, das Volk umlagerte die Schranken. Man beraubte das Heiligtum der Weihegeschenke, das Volk brachte andere. Es wurde die Quelle verschüttet. Vergebens, unter dem Schutte kam sie wieder hervor. Die Aufgeklärten nannten die Erscheinungen Einbildung. Umsonst, Tausende riefen den Gelehrten entgegen. Sie hat die Mutter Gottes gesehen. Man untersuchte das Wasser und erklärte, es sei an sich schon heilkräftig, das brauche nicht von oben erst wundertätig geworden zu sein. Vergebens, das Volk nannte die Quelle das Wunderwasser der Jungfrau. Man bezahlte Leute, daß sie sich krank stellen sollten. Sie sollten in der Grotte baden und sich für geheilt ausgeben. Dann überweise man sie des Betruges und könne erklären, wie leichtgläubig das Volk sei. Umsonst, die Mutter Gottes ist klüger als Menschenweisheit: der Betrug kam ans Tageslicht und gereichte den Urhebern selbst zur Schande.
Inzwischen geschieht Wunder auf Wunder, sowohl in Lourdes selbst als auch außer Lourdes. Dabei ist keine Krankheit ausgeschlossen, kein Leiden ist zu alt und zu hartnäckig, um nicht in Lourdes geheilt zu werden. Nicht nur die Krankheit des Leibes, auch die Leiden der Seele werden geheilt. So wird Lourdes inmitten der Feinde, wie einst die Kirche Jesu, zum Gnadenorte der Gottesmutter, zur größten Gnadenstätte Mariens auf weiter Welt.
Der Bischof von Tarbes hielt mit jeder Stellungnahme zu den Erscheiungen noch immer zurück. Nicht früher wollte er sich der Angelegenheit annehmen, als er von der Wahrheit der Tatsachen überzeugt war. Sobald dies geschehen war, trat er mit aller Entschiedenheit auf.
Noch immer führte die staatliche Gewalt den erbittertsten Kampf gegen Lourdes. Derselbe nahm zuweilen eine Schärfe und Härte an, daß es ein Wunder war, wenn das Volk nicht zum Aufruhr getrieben wurde. Der Zutritt zur Grotte war durch Schranken verwehrt, die schwersten Strafen standen dem bevor, der es gewagt hätte, zuwider zu handeln.
Doch wer kann dauernd wider Maria sein, wenn Gott für Lourdes war? Maria führte ihre Getreuen nach hartem Kampfe zum herrlichen Siege.
Kaiser Napoleon III. sah der Entwicklung der Dinge schweigend zu. Er mußte zu oft Meinung und Gegenmeinung anhören und konnte so zu keinem Entschlusse kommen. Im Spätsommer begab sich der Kaiser nach Biaritz ins Seebad, nicht allzufern von Lourdes. Dort besuchten ihn Vertreter der höchsten Stände und erklärten ihm freimütig, die Zustände in Lourdes seien für das Volk unerträglich geworden. Gewalttat auf Gewalttat schände das kaiserliche Ansehen.
Der Kaiser hörte ruhig zu. Auf einmal blitzte sein Auge zornig auf und Schatten flogen über seine Stirne. Unwillig griff er nach der Klingel und übergab dem Diener ein Blatt Papier. Der Diener eilte zum Telegraphenamt. Und schneller wie der Sturm eilte die Nachricht an die Gnadenstätte: Die Grotte ist frei, Maria hat gesiegt.
Wohl suchten die Feinde nochmals ihre ganze Kraft anzuwenden, die Entscheidung rückgängig zu machen, doch vergebens. Der Kaiser blieb bei seinem Entschlusse. Als das Volk die Freudennachricht vernahm, eilte es zur Grotte, der Jungfrau zu danken. Man brachte Kränze und schmückte das Heiligtum; Lied auf Lied erklang, die Gebete wollten kein Ende nehmen. Das war der Triumphzug der Gottesmutter.
Bernadette jubelte mit. Sie lebte noch eine Zeit lang bei ihren Eltern, dann verschwand sie, ihr Werk war vollendet. Im Klosterfrieden von Nevers lebte sie als Schwester Maria Bernarda ein heiligmäßiges Leben. Am 16. April 1879 ging sie heim, auf ewig die milde Jungfrau zu schauen. Und Maria wird sie glücklich gemacht haben in jener andern Welt.

Das heutige Lourdes

Vor zwei Jahren hatte ich Gelegenheit, Lourdes zu besuchen. Der Weg ist wohl weit, das Opfer, das man bringt, ist groß, aber wie gerne bringt man dieses Opfer.
Nach zweiundzwanzig Stunden kam ich von Lyon in Lourdes an. Es war fünf Uhr morgens. Wie das Herz jubelnd zittert: "Ich bin in Lourdes!" Wie die Lippe nur ein Wort spricht: "Ave Maria!"
Eine Stunde nach meiner Ankunft konnte ich schon die heilige Messe lesen. Oft muß man stundenlang warten. Ich zelebrierte am Altare der hl. Anna in der Basilika. Wie glücklich ich in jenen Augenblicken war, kann ich nicht schildern.
Der liebste Gang des Pilgers ist der Gang zur Grotte. Jenes Heiligtum zu sehen, wo Maria erschienen: Ziel aller Sehnsucht. Vor mir steht die Grotte. In der Höhle das Bild der Jungfrau, vor demselben die Lichter ohne Zahl, im Kreise die betenden Pilger. Ich wußte nicht, wie mir war. Fast schien es, das Herz sei nicht so warm und glühend, wie es der heilige Augenblick geboten hätte. Ich knie mich nieder. Der Blick ist auf das Bild gebannt, die Hände sind zum Gebete gefaltet. Auf einmal fließen die Tränen: Ich bin in Lourdes. Das ist das Plätzchen, wo die süße Jungfrau stand. Neben mir die Kranken. Dieses Vertrauen, diese Gottergebenheit. Wie die Lichter brennen und aufwärts streben: Wieviele Anliegen sprechen aus diesen Kerzen. Rings der grüne Epheu, wie er einst sproßte, noch der gleiche Epheu am gleichen Felsen: Ein Bild der Unvergänglichkeit. Es rauscht der Gave; dieses ist das Wasser, das die Kinder durchwaten mußten. Lebendig tritt das Bild der ersten Erscheinung vor meine Seele. Neben mir ist eine Gedenktafel: Hier kniete Bernadette. Jetzt darf ich an der gleichen Stelle knien. Von hier aus sah das Gnadenkind die Jungfrau. Oben flüstern die Sträucher in den Spalten der Höhle. So mochte es gerauscht haben, bevor die Jungfrau sich zeigte. Ein Vöglein setzt sich in der Grotte vor der Gottesmutter nieder, dem Vöglein scheint wohl zu sein in der Nähe der Mutter.
Man beginnt zu singen neben mir. Ich kenne die Sprache nicht. Das Lied ist vollendet, da beginnt man den Rosenkranz zu beten: Italienische Pilger. Neben mir knien Franzosen, vor mir deutsche Pilger aus Elsaß. Spanien hat seine Marienkinder gesendet, neben ihnen knien Engländer. Wer hat sie denn hieher gerufen? Die Liebe zur gleichen Mutter. Da trennt keine Sprache, da ist alles eins in Maria.
Man bringt neue Kranke. Wie die Augen ganz starr sind im gläubigen Aufblick und doch so mild in der Ergebung. Es nähert sich eine Mutter mit einem blinden Kinde. Sie kniet sich nieder, legt das Kind auf die Erde und betet mit ausgespannten Armen. Auf die Krücke gestützt, schleppt sich ein Kranker vor die Grotte, dort bringt man auf der Tragbahre einen Mann aus vornehmem Stande, hier führt man im Rollsessel ein Mütterlein zur Gnadenmutter.
Oft ist es ganz still um die Grotte, doch nur für Augenblicke. Dann beginnt wieder Lied und Gebet. Es besteigt ein deutscher Prediger die Kanzel. Wie die Muttersprache wohltut, am Throne der himmlischen Mutter zur noch süßeren Muttersprache geworden. Jedes Wort dringt tief ins Herz und wird unvergeßlich.
Bis tief in den Vormittag hinein dauern die heiligen Messen an der Grotte.
Nur Bischöfe, Dignitäre und Führer eines Pilgerzuges dürfen auf dem herrlichen Silberaltar in der Grotte die heilige Messe lesen. Inzwischen wird die heilige Kommunion ausgeteilt, für die Gesunden durch das Gitter der Grotte, für die Kranken unter einem Baldachine in feierlicher Prozession.
Wie man in Lourdes betet, betet man wohl nur an wenigen Orten der Erde. Dieses Vertrauen, diese Innigkeit, dieses Gottergebensein! Da gibt es keine Menschenfucht, keine Rücksicht auf andere, da gibt sich das Herz, wie es ist. O, so selig ist es, mutterseelenallein dort zu beten! Alles andere verschwindet, man ist mutterseelenallein.
Lourdes einst und jetzt. Einst ein bescheidenes Städtchen, jetzt durch Maria eine Weltwallfahrt.
"Man soll mir eine Kapelle bauen", hatte Maria gesagt. Aber für das kindliche Vertrauen wäre eine Kapelle zu eng und zu klein gewesen. Das Vertrauen und der opferwillige Glaube baute drei herrliche Gotteshäuser, die sozusagen ineinandergeflochten wie Glaube, Hoffnung und Liebe, ein in Marmor gegrabenes Werk katholischer Marienbegeisterung darstellen. Hoch oben ragt und grüßte die herrliche Basilika, der Glaube; unter ihr liegt wie das Hoffen im Schoße der Erde die geheimnisvolle Krypta, die Hoffnung; noch tiefer die Rosenkranzkirche, rund, ohne Anfang und Ende wie die göttliche Liebe, die Geheimnisse des Rosenkranzes, die Geheimnisse der menschgewordenen Liebe darstellend. Und das alles birgt einen Reichtum, und doch ist dieser Reichtum entstanden zumeist aus den Gaben der Armen.
So eilt man von Stätte zu Stätte, nicht so sehr um zu schauen, als zu beten. Aber immer wieder kehrt man am liebsten zur Grotte zurück, sie ist die Seele von Lourdes. Man geht hin und kommt wieder. Eine himmlische Atmosphäre, ein übernatürliches Geheimnis weht an dieser Stätte, man fühlt sich sozusagen der Erde entrückt und dem Himmel näher.
Neben der Grotte fließen die Brunnen mit Lourdeswasser. Sie sind fast immer von Pilgern belagert. Man wäscht sich, man trinkt, man denkt; dies ist das himmlische Wasser.
Kniet man vor der Grotte, dann überläßt man sich seinen Gedanken und Gefühlen. Es zieht das Leben an der Seele vorüber, Sturm und Leid. Die Seele ist weicher gestimmt als sonst, empfänglich für die Stimme der Gnade. Lauter als sonst klopft der Herr an das Herz, man bringt Opfer, man entsagt, man macht Umkehr, man sucht Frieden. Man verspricht, ein neuer Mensch zu werden, man weint, man lächelt: Es kommt der Friede.
Um 4 Uhr nachmittags trägt man die Kranken ins Bad. Heraußen bestürmt das Volk die Mutter der Kranken. Wie oft geschah in dieser Stunde eine wunderbare Heilung.
Hernach findet die feierliche Prozession mit dem Allerheiligsten statt. Das ganze Volk singt. Inmitten der Prozession führt man die Kranken. So bewegt sich der Zug vorwärts bis zum großen Platze vor der Rosenkranzkirche. Dort werden die Kranken in ihren Bahren und Wägen nebeneinander gereiht. Oben auf den Stufen steht der Priester mit dem Allerheiligsten. Neben ihm ein anderer Priester. Mit kräftiger Stimme fleht dieser zum Himmel: "Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner!" "Herr, hilf uns, sonst gehen wir zugrunde!" "Herr, der, den du lieb hast, ist krank!" "O Herr, ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, und meine Seele ist gesund!" Das Volk wiederholt, Tränen in den Augen, oft bis zum ungestümen Vertrauen hingerissen, die Worte. Die Kranken flüstern die gleichen Worte, der Glaube kennt keine Grenze mehr. Der Priester nähert sich mit dem Allerheiligsten jedem einzelnen Kranken und gibt ihm den Segen. So mancher stand schon in diesem Augenblicke auf und war gesund. Man sieht, wie sich die Kranken aufzuraffen suchen, geheilt zu sein, wie sie schmerzvoll zum Himmel schauend wieder zurücksinken ins Lager: "Herr, dein Wille geschehe!"
Um 8 Uhr abends versammeln sich die Pilger zur Lichterprozession. Die Grotte ist in ein Meer von Lichtern getaucht. Langsam beginnen die Pilger, sich paarweise zu ordnen, man hat an der Grotte den heiligen Rosenkranz und die Litanei beendet, da beginnt jenes wunderbare Schauspiel, das der Pilger zeitlebens nicht mehr vergessen kann. Es reiht sich Paar an Paar, Licht an Licht. Ringsumher ist es dunkel, vom Himmel grüßen die Sterne. Es wird das Lourdeslied angestimmt. In seiner einfachen Melodie ergreift es das Herz und reißt zur Begeisterung hin. In dieser und jener Sprache hört man singen, die Melodie eint die Worte aller Sprachen.

"Auf Bergen, in Tälern, am rauschenden Fluß
Ertönet die Glocke zum englischen Gruß:

Ave, ave, ave Maria!"

Wie ein Jubeln rauscht das Lied durch die Nacht hin, sooft das "Ave Maria" aus dem Pilgermunde klingt: Man ist hingerissen von heiliger Begeisterung für die Mutter. So bewegt sich der Zug bis zur Basilika, jeder wollte noch eine Stunde singen und gehen; die Lichter erlöschen, die Pilger suchen die Herberge auf. Ich eile nochmals zur Grotte, der lieben Mutter "Gute Nacht!" zu sagen. Hunderte von Pilgern befinden sich dort. Im Lichte der Opferkerzen steht die Statue in der Grotte wie verklärt. Ringsumher der Friede der Nacht. Über uns die zahllosen Sterne. Ein leises Flüstern geht durch die Zweige. Das Herz gedenkt eines Liedes der fernen, deutschen Heimat. Auf leichten Schwingen schwebe das Lied zur Gnadenvollen empor, ein Kindesgruß:

"Wir ziehen zur Mutter der Gnade,
Zu ihrem hochheiligen Bild;
O, lenke der Wanderer Pfade
Und segne, Maria, sie mild,
Damit wir das Herz dir erfreuen,
Uns selber im Geiste erneuen.

Wo immer auf Wegen und Stegen
Auch wandelt der Pilgernden Fuß,
Da rufen wie allen entgegen:
"Maria, Maria!" zum Gruß.
Und höret ihr unsere Grüße,
Dann preiset Maria, die Süße.

Mit Kummer und Schulden beladen,
Mit gläubig vertrauendem Sinn,
So ziehn wir zur Mutter der Ganden
Die Pfade der Buße dahin:
O, führe, Maria, die Blinden,
Damit sie den Himmel einst finden."

Aus: Geistiger Pilgertag in Lourdes - Ein Büchlein für alle, die Heimweh nach Lourdes haben. Von Anton Pichler. Mit f.-e. (fürsterzbischöflicher) Approbation. III. Auflage, Wien. Im Selbstverlage des Verfassers. 1902

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