Montag, 15. Oktober 2007

So war Maria

Innerlich wie äußerlich war alles an ihr gediegen, alles Ebenmaß und Einheit. Die wunderbare Ordnung ihres Wesens übetraf weit die Harmonie, mit der Adam und Eva im Stande der Unschuld das Paradies verklärten. Jeder ihrer Sinne folgte dem Willen, der Wille dem Verstande, der Verstand den Einsprechungen und dem Gesetze Gottes. Nur ein Wink des Gewissens, und Gottes leisester Wunsch war vollzogen, so vollkommen, dass sich auch nicht die Bewegung eines Fingers dem Gebote der Vollkommenheit entzog.
Welche Bescheidenheit und Eingezogenheit in ihrem Betragen! Augen, Mund, Gebärde, Gang und Ton der Stimme predigte Milde, Ruhe, Sammlung, Liebe. Da war nichts gemacht, nichts berechnet, nichts verstellt. Ihre Haltung war edel, ernst, gerade und freundlich, zugleich Ehrfurcht und Bewunderung einflößend, liebenswürdig, ohne zu reizen, erhaben, ohne zurückzuschrecken, anziehend und doch Zurückhaltung gebietend.
Ihre Kleidung und was sie in Händen hatte, war immer geordnet, reinlich, zierlich und doch äußerste Einfachheit.
Was sie zu tun hatte, war immer zur rechten Zeit getan und nie mit Eilfertigkeit und Aufregung vollbracht. Was heute geschehen mußte, verschob sie nicht auf morgen, was morgen traf, tat sie heute nur, wenn es voraussichtlich morgen nicht möglich war. Was sie begann, dabei war sie ganz, und doch war sie dabei ganz in Gott. Was sie tat, das war getan; woran sie die Hand gelegt, daran brauchte keine mehr eine zu legen. Wer ihr den Auftrag gab, der wußte, dass er besorgt, wer ihr ein Geheimnis anvertraute, der war beruhigt darüber, dass es gut aufgehoben sei. Übereilung, Übersehen, Zerstreutheit, Vergessen hat ihr niemand je vorgeworfen. Sie brauchte keine Tat zu verbessern, kein Wort zurückzunehmen oder zu erläutern. Sie hat sich nie vergessen, nie versprochen.
Nichts war ihr zu klein, zu niedrig, zu schwer, nichts kam ihr unerwartet oder ungelegen.
Sie lebte in dem, der alles in Händen hält. Sie ließ keinen Gedanken in sich aufkommen als den der Gleichförmigkeit mit dem, der alle Pläne und alle Hindernisse kennt. Ihr Wille war nie ein anderer als der Wille dessen, der Herr über alles ist. Darum kreuzte nichts ihre Pläne, darum verlor sie nie Fassung und Ruhe, darum geschah auch im Widerwärtigsten ihr Wille.
Niemand sah sie ratlos, mutlos, hilflos. Nie hörten ihre Engel sie klagen. Nie war sie so müde, dass sie der Liebe und Pflicht eine neue Arbeit abgeschlagen, nie so arm, dass sie nicht immer wieder etwas zu geben gehabt hätte.
Kein Augenblick sah sie müßig, und doch hatte sie immer Zeit für jede Not und für jeden ernsten Wunsch des Nächsten. Keinem hat sie wehe getan, keinem einen Wunsch abgeschlagen, der in Gott getan war. Einen vorwurfsvollen Blick, eine trübe Miene, eine trockene Antwort erfuhr niemand von ihr. Sie gehörte allen, denen Gott gehört, den Sündern, den Elenden, den Frommen.
Einen Wechsel beobachtete keiner an ihr, keinen Kleinmut, keine Unbeständigkeit, keine Erschöpfung, nicht einmal den seligen Wechsel zum Bessern. Die einzige Änderung, die man an ihr wahrnahm, war die stetig gleichmäßige Entfaltung ihrer entzückenden Tugendfülle.
Oh, sagt eine fromme Seele, wer die Schönheit, Reinheit und arglose Tiefe Mariä sehen könnte! Sie weiß alles, und doch ist sie sich dessen nicht bewußt, so kindlich ist sie. Sie schlägt die Augen nieder, aber wen sie ansieht, dem geht ihr Blick wie ein unbefleckter Lichtstrahl, wie die Wahrheit durch und durch. Das aber ist darum, weil sie so ganz unschuldig und Gottes voll und ohne alle Absicht auf sich selber ist. Niemand kann diesem Blick widerstehen.

(Schmöger, Anna Katharina Emmerich (2) II, 187.
Aus dem Buche: APOLOGIE DES CHRISTENTUMS, fünfter Band: die Philosophie der Vollkommenheit, zweite und dritte Auflage, Herder, Freiburg im Breisgau 1898.

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